
Feste feiern, bevor sie fallen.
Egal ob Aktien, Anleihen, Immobilien oder Gold: Fast alle wichtigen Anlagen legten im vergangenen Jahr mehr oder weniger zu. Dabei stellte man sich als Beobachter die Frage: Was wird hier eigentlich gerade gefeiert?
Natürlich ist gut immer relativ. Nach Covid, der Invasion der Ukraine und dem Aufkeimen des Nahostkonflikts haben sich die Ansprüche an ein «anständiges Jahr» vermutlich bei vielen von uns deutlich reduziert. Dabei gab es 2024 einiges, was die Party-Stimmung hätte trüben können: Im Frühling drohte eine Immobilienkrise, im Sommer ein Börsen-Crash und die politische und wirtschaftliche Unsicherheit wurde durch Trumps Wahl nicht kleiner.
Glücklicherweise sind die Märkte aber einfallsreich, wenn es darum geht, einen Grund zum Feiern zu finden. Besonders, wenn die letzte Sause schon ein paar Jahre zurück liegt. Dann reicht zur Not auch die Aussicht auf ein Fest, um schon etwas vorzuglühen. Im Party-Kalender stehen dabei zwei Termine, für die sich die Märkte 2024 schon warmgemacht haben: unsere kollektive Pensionierung dank künstlicher Intelligenz und die Zinswende in Richtung billiges Geld.
Zwei ungeschriebene Geschichten, die das Geschehen an den Märkten im vergangenen Jahr geprägt haben. Für unseren Jahresrückblick holen wir deshalb (trotz Dry January) nochmals die Champagnergläser aus dem Keller und schleichen uns für dich auf diese beiden rauschenden Partys von 2024. Cheers!
Die Pensionierungs-Fete
Das wichtigste Narrativ, das die Aktienmärkte im vergangenen Jahr geprägt hat, lässt sich etwa so zusammenfassen: Mit künstlicher Intelligenz lässt sich jetzt endlich (richtig viel) Geld verdienen. Oder etwas differenzierter: Nach Jahren der Investitionen und Achtungserfolge wird allmählich der technologische Durchbruch erreicht und es beginnt die Massenadaption.
Die Konsequenz wäre eine gesamtwirtschaftliche Produktivitätssteigerung vergleichbar mit jener bei der Einführung der Dampfmaschine, der Elektrizität oder zuletzt des Internets. Viele anspruchsvolle Arbeiten, die trotz Digitalisierung bisher noch von Menschen erledigt werden müssen, könnten neu Maschinen übernehmen. Dadurch beschleunigt sich das Wachstum der Wirtschaft und der Wohlstand nimmt zu. In letzter Konsequenz müsste (fast) niemand mehr arbeiten – ausser die Roboter. Zumindest in der Theorie. Diese Überlegungen sind der Grund, weshalb die breite Einführung von KI und verwandten Technologien bereits heute als vierte Industrielle Revolution bezeichnet wird. So wahrscheinlich dieses Szenario aktuell erscheinen mag: Erst die Zukunft wird zeigen, ob und wie diese Entwicklung tatsächlich eintrifft.
Die Märkte feiern trotzdem schon. Und wie so oft bei guten Partys lässt sich die Atmosphäre vermutlich am besten anhand einer legendären Geschichte einfangen: NVIDIA, der wichtigste Produzent von Grafikprozessoren, hat seinen Wert innerhalb von fünf Jahren von 150 Milliarden auf 3.2 Billionen US-Dollar erhöht und ist heute (knapp) hinter Apple das zweitgrösste Unternehmen der Welt. Allein im Jahr 2024 hat sich der Wert des Unternehmens fast verdreifacht. Der Grund: Während die NVIDIA-Grafikkarten jahrzehntelang vor allem in der Gaming-Community beliebt waren, haben sie sich in den letzten Jahren zum vielleicht wichtigsten «Rohstoff» der digitalen Ökonomie entwickelt. Insbesondere Anwendungen im Bereich der künstlichen Intelligenz und der Blockchain-Technologie basieren auf der Ausführung einer enormen Zahl an einfachen mathematischen Operationen. Grafikprozessoren sind am besten dafür geeignet, die dafür benötigte Rechenleistung zu erbringen - und NVIDIA ist der aktuelle Marktführer. Die Preisexplosion widerspiegelt also das zukünftige Potenzial, das die Märkte in dieser Technologie sehen.
NVIDIA war auf dieser Fete die unbestrittene Party-Königin, es gab aber noch einige weitere gutgelaunte Gäste. Allerdings nicht allzu viele. Genaugenommen exakt sechs: Neben NVIDIA waren dies Alphabet (Google), Amazon, Apple, Meta (Facebook), Microsoft und Tesla. Eine recht exklusive Party also. All diese Unternehmen vereint, dass sie Marktführer in einem Kernbereich der digitalen Wirtschaft sind. Entsprechend profitierten sie in den letzten Jahren enorm von den Zukunftsfantasien und dem Hype um künstliche Intelligenz: Im Durchschnitt haben sie seit Anfang 2020 um fast 600 Prozent an Wert zugelegt, davon 80 Prozent im Jahr 2024. In Anlehnung an die Titelhelden eines Western-Films von 1960 brachte diese Entwicklung NVIDIA & Co. die Bezeichnung der «Glorreichen Sieben» ein, über die wir auch in unserem Marktbericht von letztem April geschrieben hatten.
Der gesamte US-Aktienmarkt entwickelte sich mit einem Plus von rund 80 Prozent seit 2020 zwar ebenfalls aussergewöhnlich gut. Allerdings verdankte er die Gewinne fast ausschliesslich den sieben Technologie-Giganten, die heute gemeinsam einen Drittel des gesamten US-Börsenwertes ausmachen. Oder anders formuliert: Ohne die Glorreichen Sieben hätten sich US-Aktien kürzlich mehr oder weniger seitwärts bewegt – fast der gesamte Aufschwung der vergangenen Jahre war getrieben durch die Gewinne von sieben Unternehmen. Das Gleiche gilt etwas weniger ausgeprägt auch global. Der Anteil der Glorreichen Sieben am Welt-Aktienmarkt beträgt immer noch fast 20 Prozent. Damit erklären ihre Gewinne auch einen Grossteil der weltweiten Renditen, die 2024 im Durchschnitt bei 20 bis 30 Prozent lagen.
Das Phänomen erklärt zudem, warum 2024 fast alle anderen Regionen hinter den USA zurückblieben. Märkte wie die Schwellenländer (+15%), Europa (+9%) und insbesondere die Schweiz (+6%) erlebten zwar ebenfalls ein erfolgreiches Jahr, konnten aber kurzfristig nicht gleich vom Hype um KI und die Glorreichen Sieben profitieren. Diese Regionen widerspiegeln die tatsächliche Entwicklung des breiten Aktienmarktes im vergangenen Jahr deshalb deutlich realistischer und bieten in Zukunft gegenüber US-Aktien womöglich noch etwas Aufholpotenzial.
Die Flat-Rate-Party
Das Motto der zweiten grossen Party des letzten Jahres: «Print Your Own Money». Oder: Zurück zum billigen Geld. Daran hatten sich die Märkte seit der globalen Finanzkrise von 2008 gewöhnt. Um die Wirtschaft wieder zum Laufen zu bringen, hatten Nationalbanken weltweit damals die Zinsen gegen null – und später auch darunter – gesenkt. Und Geld damit praktisch gratis gemacht. Dadurch stiegen die Investitionen und die Aktienkurse in den 2010er-Jahren bis auf ein paar kleine Rückschläge konstant an. Durch den Ausbruch von Corona und den Ukraine-Krieg stoppte die Musik nach einem guten Jahrzehnt steigender Aktienpreise abrupt und die Party kam zum Stillstand. In der Folge entstanden weltweit Produktionsengpässe und Rohstoffknappheit, was in Europa und den USA zum ersten Mal seit den 90ern die Inflation zurückbrachte. Um die steigenden Preise zu bekämpfen, sahen sich die Nationalbanken gezwungen, die Zinsen drastisch zu erhöhen – die Party war endgültig vorbei: Hohe Zinsen bremsen die Finanzmärkte. Wir haben in der Vergangenheit immer wieder über diesen Mechanismus geschrieben, zum Beispiel in unserem Marktbericht «Der ungebetene Gast».
Die steigenden Zinsen schadeten dabei nicht nur Aktien, sondern auch Anleihen, der zweiten wichtigen Anlageklasse. Während hohe Zinsen direkt auf das Wirtschaftswachstum und damit auf die Aktienpreise drücken, ist es bei Anleihen etwas komplizierter: Kauft man eine Anleihe, gibt man einem Unternehmen damit einen Kredit – anstatt wie bei Aktien einen Anteil der Firma zu erwerben. Im Gegenzug bezahlt einem das Unternehmen dafür einen regelmässigen Zins. Aus dieser Perspektive sind hohe Zinsen für Anleiheinvestoren langfristig vorteilhaft: Erhöht die Nationalbank den Leitzins, steigen auch die zukünftigen Renditen auf Anleihen. Kurzfristig überwiegt aber ein negativer Effekt: Steigen die Zinsen, verlieren existierende Anleihen an Wert. Der Grund dafür ist, dass plötzlich Anleihen mit höheren Zinsen in Umlauf kommen. Alte Anleihen mit tiefen Zinsen werden dadurch unattraktiv. Möchte man sie trotzdem verkaufen, muss man sie günstiger anbieten – ihr Preis sinkt. Und damit die kurzfristigen Renditen.
Aus diesem Grund waren die vergangenen Jahre einige der schlechtesten für Anleihen. Die zwischenzeitlichen Verluste von 2022 und 2023 waren nahezu vergleichbar mit jenen von Aktien – obwohl Anleihen im Normalfall als die viel sicherere Anlageklasse gelten. Während die kurzfristigen Verluste von 20 Prozent bei Aktien noch völlig im Bereich des üblichen lagen und bis heute vollständig aufgeholt wurden, rutschten Anleihen mit der Inflation und den steigenden Zinsen in eine historische Krise, von der sie sich bis heute noch nicht vollständig erholt haben.
Glücklicherweise funktioniert das Spiel mit den Zinsen aber auch in die entgegengesetzte Richtung: Sinken die Leitzinsen, verleiht das sowohl Aktien als auch Anleihen Antrieb. Und genau diese Aussicht hat die Märkte neben den Fortschritten im KI-Bereich 2024 beflügelt: Weil Zinsen der Inflation folgen, zeichnet sich die Zinswende immer deutlicher ab. Und damit eine Rückkehr zum billigen Geld und einer Fortsetzung der Flat-Rate-Party.
Tatsächlich wurde der Höhepunkt bei den Zinsen wohl bereits im Laufe von 2024 überschritten. Zumindest in der Schweiz. Hierzulande scheint die Inflation mittlerweile besiegt, weshalb die Schweizerische Nationalbank (SNB) die Zinsen seit Anfang 2024 bereits schrittweise von 1.75 auf 0.5 Prozent reduzieren konnte. Selbst in den USA, wo die Inflation deutlich stärker ausfiel, begann die Federal Reserve Bank (FED) Ende Jahr mit ersten Zinssenkungen. Dies und die Aussicht auf weitere Zinsschritte hob die Partystimmung an den Börsen und stützte nicht nur die Kursgewinne von Aktien, sondern löste auch eine deutliche Erholung der angeschlagenen Anleihemärkte aus. Schweizer Franken Obligationen legten 2024 beispielsweise um gut 5 Prozent zu und deckten damit einen grossen Teil der Verluste seit 2020.
US-Staatsanleihen entwickelten sich im vergangenen Jahr mit einem knappen Prozent zwar ebenfalls positiv. Sie sind aber noch deutlich weiter von einer vollständigen Erholung entfernt. Dies liegt unter anderem daran, dass die USA im Vergleich zur Schweiz mit ihren Zinssenkungen nicht nur deutlich später, sondern – mit 5.3 Prozent – auch von einem deutlich höheren Niveau gestartet sind. Der aktuelle US-Leitzins von 4.5 Prozent weist zwar ebenfalls nach unten. Der Pfad auf ein normales Niveau scheint aber noch deutlich holpriger als in der Schweiz, weil sich die Inflation in den USA hartnäckiger hält als anderswo.
Geht die Party weiter oder kommt die Katerstimmung?
Das Party-Jahr an den Börsen lässt sich also folgendermassen zusammenfassen: Fast alles ging nach oben.
Vor allem Aktien. Und ganz besonders die Glorreichen Sieben. Eigentlich fast nur die Glorreichen Sieben. Der Grund dafür lag im erhofften Durchbruch der künstlichen Intelligenz oder – etwas breiter – der bevorstehenden vierten industriellen Revolution. Aber auch Anleihen und Immobilien legten deutlich zu. Diese beiden Anlageklassen profitierten vor allem von der Aussicht auf eine baldige Zinswende und billiges Geld – also einer Rückkehr zur Party-Stimmung der 2010er. Und zu guter Letzt: Auch Gold hat dieses Jahr geglänzt – mit einem Plus von über 20 Prozent. Das Edelmetall hat von der anhaltenden politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit profitiert. In unserem Marktbericht «Gold – Der stürmische Hafen» hatten wir uns ausführlich damit beschäftigt.
Also alles gut? Fast. Künstliche Intelligenz könnte zu massiven Produktivitätsgewinnen führen. Bisher haben nur die Glorreichen Sieben davon profitiert. In einem nächsten Schritt könnten die neuen Technologien weiteren Unternehmen helfen, ihre Produktivität und ihren Wert langfristig zu steigern. Ähnlich wie beim Internethype Ende der 90er-Jahre, als anfänglich ebenfalls nur wenige Technologie-Giganten im Mittelpunkt standen, bevor die Entwicklung im breiten Markt ankam. Wie damals besteht aber auch heute die Gefahr, dass es aufgrund von Übertreibungen zu einer zwischenzeitlichen Korrektur bei den frühen Gewinnern kommt – insbesondere bei den Glorreichen Sieben.
Gleichzeitig könnte die Zinswende mit billigem Geld den notwendigen Treibstoff liefern, um die Massenadaption der künstlichen Intelligenz voranzutreiben und die Aktienmärkte nachhaltig zu beflügeln. Aber auch für Anleihen erscheint das aktuelle Umfeld mit den hohen, aber sinkenden Zinsen so attraktiv wie seit Langem nicht mehr. Selbst wenn die Party zwischenzeitlich noch ein paar Mal gecrasht werden sollte: Mittel- bis langfristig könnte sich die Feierlaune an den Märkten als berechtigt herausstellen.